Hans setzt sich das headset auf, in 5 Minuten steht das Teammeeting mit seiner Führungskraft auf dem Plan. Müde reibt er sich die Augen und versucht seine Gedanken zu sortieren. Heute ist es dann das vierte online-meeting für ihn. Er sehnt sich nach der Zeit, in der er in einen Besprechungsraum gehen konnte. Auf dem Weg dorthin würde er sich an der Kaffeebar einen Espresso holen, dabei kurz mit einem Kollegen aus einer anderen Abteilung sprechen. Und da es immer eine Weile dauert, bis wirklich alle im Besprechungsraum sind, würde er noch ein paar Kleinigkeiten mit den Teamkollegen austauschen können.

Und jetzt? Seit Stunden sitzt er in seinem kleinen häuslichen Arbeitszimmer vor dem Laptop, ein paar benutzte Kaffeetassen stehen um ihn herum, sein Nacken ist verspannt. An die Technik der online-meetings haben sich alle gewöhnt. Die Qualität des Videokanals ist schlecht, deshalb abgeschaltet; aber der Audiokanal funktioniert ganz gut. Alle loggen sich erstaunlicherweise pünktlich ein. Und sein Chef strukturiert die Meetings klar und effektiv. Eigentlich ist doch alles super?! Was ihm wirklich fehlt, ist der persönliche Kontakt. Er ist verunsichert, weil er die Stimmung der anderen nicht einschätzen kann. Besonders sein Kollege David ist so komisch manchmal. Gibt es einen Konflikt im Team oder weiß David Dinge, die die anderen nicht wissen? Umstrukturierungen oder anderes?

Eigentlich müsste doch alles entspannter laufen – mehr Chancen sich selbst zu balancieren. Aber er fühlt sich isoliert, alleingelassen und noch stärker durchgetaktet als vor der Zeit im Homeoffice. Leider überträgt sich seine schlechte Stimmung auf die Familie. Er ist reizbarer, die Kinder gehen ihm aus dem Weg und fürchten wohl auch einen erneuten Streit zwischen den Eltern.

Das ist eines der Beispiele aus meiner Coaching-Praxis, die die veränderten Anforderungen an virtuelle Führung und Selbstführung unterstreichen. 

 

Worauf es bei der virtuellen Führung ankommt?

Studien und praktische Erfahrung zeigen – es ist mehr emotionale und soziale Kompetenz gefordert. Die Basis ist die Reflexion: Wie passt das bisherige Führungsverhalten im persönlichen Kontakt zu den virtuellen Rahmenbedingungen. Wie findet persönlicher Kontakt statt? Welche Rituale sind wichtig? Und was davon lässt sich virtuell umsetzen? Was muss anders gelebt werden?

Die Erfahrungen in vielen Unternehmen zeigen, dass nicht nur eine Verhaltensänderung, sondern häufig auch eine Veränderung der Werte erforderlich ist.

  • Sinnorientierung und Gestaltbarkeit:

So ist es bei der Abstimmung von Aufgabe bzw. Projekt noch wichtiger immer wieder auf die übergeordneten Ziele und entsprechenden Prioritäten einzugehen. Die Frage nach dem „Wozu“ ist diese Aufgabe/Projekt wichtig, steht bei vielen Tätigkeiten mehr im Fokus als die Frage nach dem „Wie“ und „Was“ oder „Wann“ genau zu tun ist.

Diese Einbettung „Wozu“ bietet hilfreiche Orientierung für das persönliche Selbstmanagement. Gerade wenn es um die Balance der Lebensbereiche geht, sind – auch emotional verankerte – Prioritäten extrem hilfreich. 

Das gilt auch, wenn mehrere Teammitglieder in einem Projekt gemeinsam an einem Strang ziehen sollen. Das große Ziel, die Richtung ist mit einem gemeinsamen Verständnis des „Wozu“ sehr viel einfacher. Die Verantwortung für das Ergebnis wird damit auf mehrere Schultern verteilt, Entscheidungsfindung und die Zugehörigkeit im Team gestärkt. 

  • Zugehörigkeit und Vertrauen:

Gerade bei räumlicher Trennung ist die Bindung, die informelle Interaktion im „kleinen gallischen Dorf“ für die Menschen und das Unternehmen lebenswichtig. Trifft man sich regelmäßig in einer virtuellen „Café-Lounge“ oder zum „After-Work-Drink“. Gibt es ein morgendliches Begrüßungsritual oder eine Verabredung zum gemeinsamen Mittagessen – ohne Themenplan, als Austausch von Gedanken, Erfahrungen – denn alles das kann auch virtuell stattfinden. 

Konflikte sind hilfreich, wenn sie geklärt werden. Das gilt auch im virtuellen Raum. So sollte ein Umgang mit möglichen Konflikten dann besprochen werden, wenn es (noch) keine gibt. 

Ähnliches gilt auch für den Umgang mit möglichen Überlastungen. Auch dieses kritische Thema sollte geklärt sein, wenn es noch keine gibt. Welche Signale können virtuell wahrgenommen werden. Gibt es ein regelmäßiges 2er-Gespräch, das „nur“ weiche Faktoren, wie Zufriedenheit, Belastung, Auslastung, Erwartungen zum Inhalt hat? Oder gibt es einen virtuellen Raum, in dem man solche Themen im kleinen Kreis besprechen kann?

Diese Themen – vor allem auch­ – im virtuellen Team abzustimmen ist Goldwert. Wenn informelle Kontakte, gegenseitige Unterstützung und Wertschätzung spürbar sind, wird Oxytocin ausgeschüttet. Das reduziert möglichen Stress, stärkt Wohlbefinden und Vertrauen.

Hans hat sich ein Herz gefasst, und mit seinem Chef und dem Team genau diese Aspekte besprochen. Er war überrascht, dass die anderen ähnliche Probleme hatten, aber nicht den Mut, sie anzusprechen. Darüber hinaus hat Hans kleine persönliche Rituale in den Alltag eingebaut. Morgens nach dem Frühstück geht er eine Runde um den Block, um dann am Arbeitsplatz anzukommen. Zwischendurch nutzt er wirklich die Café-Lounge und hat sich verschiedene mentale Techniken angewöhnt, um besser ab- und umzuschalten. Der Arbeitsalltag endet mit einer Reflexion der erreichten Ergebnisse – auch wenn es nur einzelne Bausteine sind. Er kommt – nach einer persönlichen Auszeit  – gefühlt „nach hause“ und kann sich ganz auf die Familie konzentrieren.

Viel Erfolg!

Dr. Petra Bernatzeder, Diplom-Psychologin, Coach, Expertin für mentale Stärke  von Upgrade-HR